Rede von Dipl.-Ing. Klaus Gebhard, Ingenieure22
Guten Abend, liebe Bewohner eines Dritte-Welt-Landes,
ja, sie haben richtig gehört, so weit ist es schon gekommen: Unser einst so stolzes High-Tech-Land wird wegen der bei uns so auffällig sich häufenden Bau-Desaster vom Ausland mittlerweile als Entwicklungsland verspottet. So schreibt etwa die Basler Zeitung zum jüngsten Rastatter Tunnelbohr-Unglück:
„Die Schweiz täte gut daran, Deutschland künftig als Drittweltstaat einzustufen, insbesondere, wenn es dort um Infrastruktur- und Verkehrspolitik geht. Die Schweiz muss sich deshalb überlegen, ihr Entwicklungshilfebudget aufzustocken, um so im Krisengebiet vor Ort dringend benötigte Planer und Ingenieure zum Einsatz bringen zu können. Nach Deutschland mitreisen könnten gleich auch ein paar Juristen, die in Berlin die Bedeutung von Unterschriften erklären. Deutschland hat sich 1996 per Staatsvertrag verpflichtet, seinen Gotthard-Zubringer auf eigenem Territorium fertigzustellen. Rechtzeitig. Der Termin ist verstrichen, ein neuer ist nicht in Sicht.“
Mit dem jüngsten Unglück in Rastatt haben wir einen gewichtigen Grund mehr, den systemischen Ursachen für die schmählich sich häufenden Großprojekts-Debakel in unserem Land und Ländle auf den Grund zu gehen. Wir brauchen dazu keine TVM, keine Tunnelvortriebsmaschine, dafür reicht eine LVM, eine Logikvortriebsmaschine. Die hat jeder direkt unter seinem Schädeldach. Stellt sich als erstes die Frage: Was ist da in Rastatt passiert? Nun, nichts genaues weiß man nicht. Die Verlautbarungen der Bahn wie auch der beteiligten Baufirmen sind bisher ebenso spärlich wie widersprüchlich. Entsprechend schwirrt das Internet nur so vor Mutmaßungen und Theorien. Auch unsere Ingenieure22 versuchen sich mit detektivischem Spürsinn anhand der wenigen bisher gesicherten Info-Puzzleteile einen Reim auf das Geschehen zu machen. Gleichwohl steht zu befürchten, dass wir die ganze, mittlerweile einbetonierte Wahrheit womöglich nie erfahren werden. Denn der angerichtete Schaden im europaweiten Schienentransportnetz ist so immens – die Branche spricht schon von dreistelligen Millionenbeträgen –, dass mit Blick auf die sich aufaddierenden Haftungssummen nur noch die firmeninternen Juristen darüber befinden, was nach draussen kommuniziert werden darf und was nicht.
Das wenige, was bisher offiziell zugegeben wurde, entnehme ich dem Spiegel von letzter Woche:
Am 12. August gab es um 11 Uhr zunächst einen Wassereinbruch im Rastatter Tunnel– und zwar in dem Teil, in dem sich noch die Schildvortriebmaschine befand. Die Betonsegmente zur Stabilisierung des Tunnels, die sog. Tübbinge, waren dort zwar schon eingebaut und hätten eigentlich den Tunnel abdichten sollen, ebenso wie ein Eisring von circa zwei Metern Dicke. (..) Dennoch trat kurz hinter dem Bohrschild zunächst Wasser ein, zwei Tage später sackte sogar eines der Tübbing-Segmente um etwa einen halben Meter ab. Dieses Segment, teilte Bahn-Vorstand Dirk Rompf mit, sei sogar bereits eine Woche vor dem Schadenseintritt gesetzt worden. Dass an dieser Stelle Wasser eintritt, hätte [laut Rompf] „eigentlich nicht passieren dürfen“.
Spätestens an dieser Stelle müssen bei uns in Stuttgart alle Alarmglocken schrillen! Tübbingsegmente, so haben wir neu dazuzulernen, können auch absacken, nachdem sie bereits gesetzt und verschraubt sind. Und was das eindringende Wasser anbelangt:
Versichert uns nicht auch hiesigenorts ein einsamer Tunnelbau-Ingenieur im Sold der Bahn, dass dank seiner innovativen Abdichttechnik bei der Durchbohrung von gut 17 km quellfähigen Stuttgarter Gipskeupers niemals Wasser den unbedingt trocken zu haltenden Anhydrit erreichen wird? Fatal an dieser 1-Mann-Versicherung für unsere Stadt ist nur, dass „innovativ“ im Umkehrschluss nichts anderes heisst als: noch nicht erprobt!
Womit wir auch schon auf die größte und gefährlichste Gemeinsamkeit zwischen dem „wider Erwarten“ eingetreten Tunnelbohr-Debakel von Rastatt und allen noch lauernden Debakeln bei Fortsetzung des Abenteuers Stuttgart 21 gestoßen sind. Es ist dies die gemeinsame Geisteshaltung in den Chefetagen der verantwortlichen Projektbetreiber, die ich letztens in einem Tagesschau-Interview als Glücksrittertum gebrandmarkt habe. Glücksritter sind laut Wikipedia Personen, die sich bei ihrem Planen und Handeln vor allem auf ihr Glück verlassen. Und tatsächlich: Wie sich nun ein Mal mehr in Rastatt zeigt, haben die Glücksritter aus den oberen Konzernetagen alle intern geäusserten Ingenieurs-Bedenken hochmütig beiseite gewischt und in ihrer Hybris obendrein keinerlei Plan-B-Vorsorge für ein etwaiges Misslingen getroffen!
Die Folgen derart verblendeten Verhaltens sind nun mindestens acht Wochen lang zeitraubende Schienenersatzverkehre für zehntausende Bahnfahrer täglich, sowie von Rotterdam bis Genua sich stauende Güterzüge, weil potentielle Ausweichstrecken im plötzlich ganz nackt und elend dastehenden Musterländle entweder gerade zwecks überfälliger Reparaturarbeiten selber gesperrt, oder über weite Strecken nur eingleisig gebaut und nicht elektrifiziert sind. Letzteres trifft für den gesamten Südwesten von Ulm über Friedrichshafen bis Basel zu – ein großer Teil Baden-Württembergs, der in Bahnfreundekreisen schon lange warnend als „Dieselloch“ bezeichnet wird. Noch so ein Dieselskandal, den eine lange Ahnenreihe extrem kurzsichtiger CDU-, CSU- und SPD-Verkehrspolitiker zu verantworten hat.
Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Rastatt und Stuttgart 21 ist, dass wir es aufgrund des starken Konzentrationsprozesses in der Baubranche bei allen großen Bauprojekten mit den immer selben Firmen zu tun haben. Das ist ein sehr ernster Befund, denn solange die ausführenden Ingenieure von oben herab von den immer selben Führungspersonen projektgesteuert und ggflls. mundtot gemacht werden, müssen wir uns nicht wundern, wenn sich die immer selben Risiko-Umgangsmuster wiederholen. Diese alle Schalthebel besetzende oberste Kaste, die ich übrigens auch gerne als „Krawattengesindel“ bezeichne, bezeichnen sich ja selbst gern als GlobalPlayer, also als Spieler, was wiederum sehr nah an meinen Begriff der Glücksritter herankommt.
Ein Zeit seines Lebens für die Bahn gearbeitet habender veantwortungsbewusster Ingenieur, der an diesen Spieler-Chefetagen schier verzweifelt, hat es mit seiner Insider-Kenntnis nüchtern so formuliert:
„Leider gibt es im Vorstand der Bahn keine Ingenieure mehr. Wer jetzt noch regiert, sind meines Erachtens Hazardeure, die von Technik keine Ahnung haben.“
Ich füge noch hinzu: Aber von Geld und strategischem Vorgehen haben sie sehr wohl eine Ahnung. Denn dies ist die nächste Gemeinsamkeit mit Stuttgart 21:
Hier wie da werden die schwierigsten Bauabschnitte möglichst zuletzt angegangen! Erst möglichst viel abrechenbare Bauleistung in einfacherem Gelände, und die harten Nüsse, die baulich wie finanziell aus dem Ruder laufen könnten, zuletzt. Eine höchst unseriöse Reihenfolge, die den gemeinen Nebeneffekt hat, dass dadurch auch alle umstrittenen Projekte in den Augen der Mehrheit schneller unumkehrbar erscheinen. In Rastatt war diese aufgesparte härteste Nuss die Unterbohrung der wichtigsten Schienenverkehrsachse ganz Europas bei laufendem Bahnverkehr bei minimaler Bodenüberdeckung in sehr lockerem Flußgrund.
Die Stichworte minimale Überdeckung und lockerer Flußgrund sollten in Stuttgart den Blick sogleich nach Ober- und Untertürkheim schwenken lassen. Das dortige Infobündnis Zukunft Schiene schreibt: Die dort geplanten Tunnelröhren unterqueren vom Hauptbahnhof kommend das Neckarbett. Dann kommen sie unter bebautem Gebiet wieder nach oben, um an der Geländeoberfläche in die Bestandsstrecke Richtung Obertürkheim und in den Abstellbahnhof Untertürkheim (bis heute nicht planfestgestellt!) einzumünden. Die Bodenüberdeckung verringert sich also auf relativ kurzer Strecke von maximal 30 Meter auf 0 Meter. Knapper geht’s nicht! Und weiter: In Rastatt ist von heiklem Rheinkies die Rede. In einer der jüngst genehmigten Planänderungen für den PFA 1.6a in Richtung Obertürkheim war ausdrücklich von hochdurchlässigen Neckarkiesen die Rede. Zitat Ende.
Überzeugen Sie sich bitte selbst vom dort geplanten Tunnelverlauf, entweder auf der großen Karte am Mahnwachenzelt, oder indem Sie zuhause die Seite www.biss21.de aufrufen, dort von Kartenansicht auf „Luftbilder“ umschalten, und sich dann an den Neckarhafen heranzoomen. Wenn Sie nah genug ran fahren, blendet die Seite auch die Tiefenmeter ein, in denen die Tunnelgleise unter der Erde liegen sollen. Da aber nicht die Gleislage, sondern der 6,5 m höher liegende Tunnelröhrenscheitel die kritische Größe ist, müssen Sie diese Zahl noch von jeder Tiefenanzeige abziehen. Dann werden sie mit eigenen Augen das folgende noch viel zu wenig bekannte Stuttgart-21-Abenteuer auf unsere Stadt zukommen sehen:
Die beiden nach Obertürkheim schwenkenden Neckartunnelröhren, die laut aktuellem Bohrstandsbericht der Bahn merkwürdigerweise noch immer vor den Sportplätzen am Bruckwiesenweg im nassen Geröllgrund feststecken, sollen hinter den Sportplätzen noch etliche Häuser und Bürogebäude in gerade einmal 14 m Tiefe unter dem Erdboden unterfahren – etwaige Keller machen den Abstand entsprechend noch geringer –, um dann, stetig ansteigend, mit nur 28 m seitlichem Abstand an den riesigen Öltanks des Stuttgarter Ölhafens vorbeizuschrammen. Im Zuge dieses an sich schon brandgefährlichen Trassenverlaufs – zum Vergleich: in Rastatt wurden nach dem Verbruch vorsorglich angrenzende Wohnhäuser bis in 50 m Entfernung zur Tunneltrasse evakuiert – kreuzen die beiden Tunnelröhren auch noch die beiden Betankungsgleise des Ölhafens in kurzen Abständen und langen Winkeln gleich 2 Mal hintereinander in geringer Tiefe! Buchstäblicher Höhepunkt dieses Wagnisses ist schlussendlich dann die Untertunnelung des einzigen Zufahrtsgleises zum Öl- wie zum Containerterminal, das, wie eben in Rastatt gescheitert, in nur 5 Meter (!) Tiefe untertunnelt werden soll. Und das gleich zwei Mal, in einem Neckartalboden, der genauso nass und instabil sein dürfte wie der Rheintalgrund. Viel Spaß, möchte man da den Tunnelbauern zurufen, wenn es für unsere Stadt nur nicht so ernst wäre.
Damit genug für heute mit den bedenkenswerten bedrohlichen Gemeinsamkeiten zwischen Rastatt und dem noch weitaus krasseren Stuttgart 21. Fazit: Es gibt noch viele gewichtige, ja lebenswichtige Gründe für einen raschen Projekt-Umstieg und ein dadurch ermöglichtes sicheres Obenbleiben!