Offener Brief von Strafrichter a.D. Dieter Reicherter an Boris Palmer

Herr Reicherter schreibt auf diesen Text den Boris Palmer über ihn veröffentliche folgenden offenen Brief:

Archivbilder: schaeferweltweit / doku-stuttgart.de

Sehr geehrter Herr Palmer,
auf Umwegen kam mir Ihre Veröffentlichung bei Facebook, in der Sie sich mit meiner Hausdurchsuchung befassen, zur Kenntnis. Ich möchte gerne kurz dazu Stellung nehmen.

Zunächst hätte ich es höflicher gefunden, nicht von einer Causa Richter, sondern von einer Hausdurchsuchung Reicherter zu sprechen. Zwar trifft es zu, dass die Untersuchung nicht mir (richtiger Name: Reicherter) gegolten hat, sondern einem Unbekannten. Um so höher sind die juristischen Hürden für eine Hausdurchsuchung bei einem Zeugen in Abwesenheit des Wohnungsinhabers und ohne Hinzuziehung einer Vertrauensperson. Vermutlich können Sie sich auch nicht vorstellen, welche Gedanken einem durch den Kopf gehen, wenn man feststellen muss, dass ärztliche Unterlagen der soeben verstorbenen und noch nicht einmal beigesetzten Mutter wie Schriftstücke der verstorbenen Schwester, aber auch persönliche Unterlagen über meinen Dienst als Vorsitzender Richter am Landgericht, durchwühlt wurden.

Leider befassen Sie sich überhaupt nicht mit dem Rahmenbefehl und seinen Auswirkungen auf kritische Bürgerinnen und Bürger. Man hat fast den Eindruck, dass Sie die Brisanz der Anordnungen zur Überwachung und Bespitzelung und die daraus folgende umfassende Datensammlung überhaupt nicht erkannt haben.
Beispielsweise wir darin auch angeordnet: “ Die Landespolizeidirektionen betreiben offene sowie verdeckte Aufklärung und übermitteln relevante Informationen an die ISa beim Polizeipräsidium Stuttgart unter nachrichtlicher Beteiligung des Landeskriminalamtes.“ „Das Polizeipräsidium Stuttgart stellt eine adäquate und kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit, insbesondere mit Blick auf die politische und gesellschaftliche Bedeutung des Projekts, zu jeder Zeit sicher.“
(Anmerkung: Ich verstehe nicht, weshalb es Aufgabe der Polizei sein soll, sich an der waschmittelartigen Werbung für Stuttgart 21 zu beteiligen. Das Geld wird für direkte polizeiliche Zwecke, zum Beispiel für Benzin zur Durchführung von Streifenfahrten, viel dringender benötigt.)

Vorsorglich möchte ich Ihnen auch mitteilen, dass sich auf meinem beschlagnahmten Computer zahlreiche von Ihnen stammende Dokumente befinden. Diese stammen aus der Zeit des Stresstests und der Volksabstimmung und entsprechen vielleicht nicht mehr Ihrer heutigen Meinung. Dennoch sind diese Daten jetzt dem Zugriff unbekannter Mächte ausgesetzt. Nach den Informationen, die mir der sachbearbeitende Staatsanwalt gab, wertet die Polizei ohne Kontrolle durch Staatsanwaltschaft oder Gericht meine beiden Computer aus, die komplett gespiegelt, also alle Daten kopiert wurden. Ich weiß nicht, ob außer den auswertenden Polizeibeamten noch andere Personen oder Behörden Zugriff auf diese Daten, also auch auf Ihre, haben. Angesichts des Rahmenbefehls würde mich dies nicht wundern.

Um so mehr bitte ich Sie um Unterstützung für den Vorschlag, den Rahmenbefehl ersatzlos aufzuheben.

Ich vermisse übrigens bei Ihnen jegliches Verständnis für einen Menschen, der nach reiflicher Überlegung sich entschlossen hat, den rechtswidrigen Rahmenbefehl an die Öffentlichkeit zu bringen. Dies passt zum angeblichen Einsatz für kritische Bürgerinnen und Bürger und deren Rechte überhaupt nicht.

Im Hinblick auf Ihre Veröffentlichung haben mir mehrere Personen mitgeteilt, dass eine mögliche Änderung Ihrer Einstellung zu Stuttgart 21 in Verbindung mit der Einstufung der Universität Tübingen als Eliteuniversität und mit verstärkter Hirnforschung an Affen zusammen hängen könne. Ich selbst kann dies nicht beurteilen, wäre jedoch für Ihre öffentliche Stellungnahme zu dieser Vermutung sehr dankbar.

Ich erlaube mir, dieses Schreiben zu veröffentlichen.

Mit freundlichen Grüßen
Dieter Reicherter (nicht Richter)

Download als PDF: Reicherter-Palmer_26-08-2012