Der Fall Dieter Reicherter/Boris Palmer

Die offen geführte Kontroverse zwischen Herr Palmer und Herr Reicherter geht weiter.
(um beiden und der Transparenz gerecht zu werden stelle ich beide Briefe ungekürzt und natürlich unbearbeitet zur Verfügung.)

Archivbilder: schaeferweltweit / doku-stuttgart.de

Herr Palmer antwortete in einem Brief an Herr Reicherter auf die oben verlinkte Reaktion:

Sehr geehrter Herr Reicherter,

vielen Dank, dass Sie sich direkt an mich wenden. Das ermöglicht es sicher, einige unnötige Missverständnisse aus der Welt zu schaffen. Sie schreiben, Sie hätten auf Umwegen von meinem Facebook-Veröffentlichung erfahren. Ich nehme daher an, dass Sie selbst nicht in diesem Medium aktiv sind und lediglich meinen Eintrag kennen, nicht aber die Debattenbeiträge anderer Personen, die zu diesem Eintrag geführt haben. Ich füge daher den gesamten Inhalt der Diskussion als Anlage bei.

Eine allgemeine Bemerkung voraus: Einträge auf Facebook-Seiten haben ihre eigenen Gesetze. Wie allgemein im Internet zu beobachten, sind die Debattenbeiträge meistens kürzer, unpräziser und zugespitzter. Die Regeln des Anstands werden dadurch nicht außer Kraft gesetzt, aber ein schnell verfasster Eintrag auf Facebook erfüllt im Allgemeinen nicht die Standards eines Briefes oder einer Pressemitteilung. Ich lege großen Wert darauf, meine Einträge nicht von einer Pressestelle gestalten zu lassen, sondern authentisch darzulegen, was ich zu bestimmten Sachverhalten meine. Das mag vielleicht erklären, warum ich „Richter“ statt „Reicherter“ schrieb – ein Versehen, für das ich um Entschuldigung bitte.

Facebook war übrigens hier für mich der Überbringer der Nachricht. Von der Hausdurchsuchung bei Ihnen hatte ich noch gar nichts erfahren, da wurde sie schon auf meiner Facebookseite diskutiert. Ich hatte einen Eintrag zu Stefan Mappus auf meine Seite gestellt, der zu Diskussionen über die Freigabe von Haschisch und eben über die Durchsuchung Ihres Hauses führte. An dieser Diskussion störte mich sehr, dass der Eindruck erweckt wurde, die Hausdurchsuchung sei von der Regierung und dem Ministerpräsidenten angeordnet worden. Die Replik auf meine Kritik an Stefan Mappus lautete sinngemäß: Kretschmann ist genauso, sieht man doch an Reicherter. Mein Eintrag hatte lediglich das Ziel, hier die Maßstäbe zu Recht zu rücken. Was am Schwarzen Donnerstag geschah, ist politisch, moralisch und juristisch in keiner Weise mit der Hausdurchsuchung bei Ihnen zu vergleichen. Wer solche Dimensionen und Kategorien ignoriert und alles Unrecht gleich setzt, setzt sich selbst ins Unrecht.

Dabei habe ich schon in meinem ersten Eintrag klar gemacht, dass ich die Hausdurchsuchung für falsch halte:

„Die Wogen schlagen hoch. Das verstehe ich auch. Wenn die Justiz Menschen verfolgt, deren Vergehen politischer Protest ist, dann regt das auf (…)Zweitens hat die Untersuchung gar nicht Richter gegolten. Schon gar nicht sollte die Bewegung ausgespäht werden. Es ging darum, die undichten Stellen im Sicherheitsapparat zu finden. Das ist nun jedenfalls vollkommen legal. Dass Sicherheitsapparate nicht erkennen, dass solche Suchen mit derartigen Mitteln nichts nützen, sondern alles nur noch schlimmer machen, ist ein Problem struktureller Art“.

Ich denke, Sie werden mir zustimmen, dass man das nicht als Verteidigung oder gar Bejahung des Vorgehens gegen Sie werten kann. Über den Rahmenbefehl habe ich mich wie Sie zu Recht anmerken nicht geäußert. Aus gutem Grund. Ich habe dazu nicht die notwendige Sachkenntnis und sehe dies bei der grünen Landtagsfraktion in guten Händen. Mir sagt allerdings die politische Lebenserfahrung, dass ein solcher Befehl nicht durch den Ministerpräsidenten ausgearbeitet oder genehmigt wird. Die Debatte auf meiner Facebookseite hatte diesen Kern, nämlich die Gleichsetzung der Regierung Mappus mit der Regierung Kretschmann im Hinblick auf das Unrecht gegenüber der K21-Bewegung. Darauf habe ich reagiert, nicht auf den Rahmenbefehl.

Was nun Ihr Vorgehen als „kritischer Bürger“ angeht, so habe ich schon aufgrund meiner Familiengeschichte nicht nur Verständnis, sondern sehr konkrete Erfahrungen, mit kritischen Stellungnahmen und daraus entstehenden Konflikte mit der Justiz. Dies ist einer der Gründe, warum ich die Hausdurchsuchung bei Ihnen auch aus Sicht der Justiz für einen Fehler halte. Sie kann dabei nichts gewinnen. Denn jeder normal denkende Mensch kommt zu dem Schluss, dass es wahrlich wichtigeres gibt, als die Verfolgung ehemaliger Richter wegen des Verrats von Polizeigeheimnissen. Ich weiß aus meiner Familiengeschichte aber auch sehr genau, dass es immer wieder Richter und Staatsanwälte gibt, die gerade in solchen Situationen eine harte Linie für notwendig halten. Das macht ihr Handeln nicht richtig, aber auch nicht rechtswidrig. Das war und ist mein Argument.

Selbstverständlich möchte niemand, dass private Daten in unbefugte Hände geraten. Ich würde mich sehr unwohl fühlen, wenn mein PC beschlagnahmt würde, gerade weil darauf nichts Unrechtes gespeichert ist. Wem ich in den letzten 20 Jahren eine Mail geschrieben habe, geht nun wirklich niemand etwas an. Ich habe aber so viel Vertrauen in die Behörden, dass ich glaube, dass Ihre Daten ausschließlich auf Hinweise nach der undichten Stelle im Staatsapparat durchsucht wurden und kein unbefugter Zugriff entstanden ist. Insoweit teile ich Ihre Sorgen in der Dimension nicht. Zu allen Stellungnahmen gegen Stuttgart 21, ganz besonders im Rahmen des Stresstest, stehe ich weiterhin uneingeschränkt. Es besteht durch die Beschlagnahmung nur die Gefahr, dass die Ermittler etwas über den Bahnhof lernen. Das soll mir recht sein. Ich habe meine Meinung zu Stuttgart 21 nicht geändert, ich akzeptiere nur den Ausgang des Volksentscheids. Das ist alles.

Ihre Fragen nach dem Exzellenzstatus und der Tübinger Affenhirnforschung beantworte ich gerne. Die Personen, die vermuten, dass dies mit meiner – real gar nicht existenten – veränderten Einstellung zu Stuttgart 21 zu tun habe, gehören offenkundig dem Personenkreis an, der mittlerweile so wenig für Argumente zugänglich ist, wie die Fortschrittstunnelfraktion in Stuttgart. Diese Leute teilen die Welt in gute und böse Menschen ein, die ersteren kämpfen für den Kopfbahnhof, die zweiten nicht. Ich bin in dieser Sichtweise vom guten zum bösen Menschen geworden, denn ich kämpfe nach dem Volksentscheid nicht mehr gegen den Tunnelbahnhof. Weil eine solche Wandlung vom Paulus zum Saulus einer Erklärung bedarf, werden allerlei abwegige Vermutungen geboren.

Was um Himmels willen sollte die Tübinger Affenhirnforschung mit meiner Position zu Stuttgart 21 zu tun haben? Es fällt mir überhaupt nichts ein, außer der Tatsache, dass auch darüber kontrovers auf meiner Facebookseite diskutiert wurde. Leider stammen viele Einträge ebenfalls von Menschen, die auf Argumente nicht mehr eingehen, und lieber die Welt in Gut und Böse teilen. Böse sind Versuche an Affen. Dem habe ich entschieden widersprochen, weil ich mich vom Nutzen der Tübinger Forschung für die Menschheit persönlich vor Ort im Gespräch überzeugt habe. Genau so entschieden übrigens, wie ich denen widersprochen habe, die das Ergebnis der Volksabstimmung nicht akzeptieren wollen. Zwischen dem Exzellenz-Wettbewerb und meiner Haltung zu Stuttgart 21 besteht nichteinmal eine solche virtuelle Verbindung. Es sei denn, Ihre Hinweisgeber wollten behaupten, dass Tübingen nur berücksichtigt wurde, weil ich nicht mehr gegen Stuttgart 21 stehe. Sie mögen selbst beurteilen, was von solchen Verschwörungstheorien zu halten ist.

Ich hoffe, es ist mir gelungen, den Kontext meiner Äußerungen herzustellen und durch die sicher notwendigen Erläuterungen die bei Ihnen entstandene Verärgerung aufzulösen.

Mit freundlichen Grüßen

Boris Palmer

Der Brief war im Originalformat ein Ms-Word Dokument aber ich versichere das ich das im Internet sicherere Format PDF nicht verändert habe: Sehr geehrter Herr Reicherter.pdf

Herr Reicherter antwortete darauf kurz vor dem 2. Jahrestag des 30.09. in folgendem Brief:

Dieter Reicherter
Althütte, den 26.9.2012
Herrn
Boris Palmer
Oberbürgermeister der Stadt Tübingen

Sehr geehrter Herr Palmer,
vielen Dank für Ihre Antwort zu meinem Schreiben. Da ich immer wieder gefragt werde, ob ich etwas von Ihnen gehört habe, und einige Punkte doch noch einer Anmerkung bedürfen, möchte ich Ihnen eine ergänzende Stellungnahme übersenden. Ich halte mich an die Reihenfolge Ihres Schreibens.

Ihre Einschätzung zu Einträgen auf Facebook teile ich nicht. Ich denke, wenn jemand dabei schlampt, werden die angeblich eigenen Gesetze dieses Mediums gerne als Ausrede benutzt. Die Missachtung meines Namens wie der letzte Satz Ihres Eintrags, bei dem das Ende fehlt, deuten nicht gerade auf ein sorgsames Abwägen der Argumente hin. Ich schlage vor, dass zur Hebung des allgemeinen Niveaus auf Facebook Förderkurse an der Elite-Universität Tübingen veranstaltet werden.

Dankenswerterweise haben Sie mir den gesamten Inhalt der Diskussion zur Verfügung gestellt. Mir fällt auf, dass Sie sich in Ihren Äußerungen jeweils auf Mappus (der das sicher verdient hat) einschießen, aber eigene Standpunkte zu den angesprochenen Fragen völlig vermissen lassen. In der politischen Diskussion ist es aber zu wenig, nur auf einen Gegner einzudreschen, ohne selbst konstruktive Ansätze zu bieten.

Beispielsweise gehen Sie auf den Schwarzen Donnerstag zwar ein. Selbstverständlich ist der brutale Polizeieinsatz vom 30.9.2010, dem ich auch zum Opfer fiel, in keiner Weise mit der Durchsuchung meines Hauses zu vergleichen. Sie sprechen politische, moralische und juristische Gesichtspunkte jenes Einsatzes an. Gerne hätte ich von Ihnen, Ihrer Partei und der grün-roten Landesregierung etwas dazu gehört, wie man das Unrecht aufarbeiten und das Vertrauen in unseren Staat wieder herstellen will. Darauf warten Tausende von Betroffenen seit zwei Jahren, bislang leider vergebens. Vielleicht setzen Sie ein Zeichen und reihen sich am kommenden Wochenende in die in Stuttgart geplanten Protestumzüge ein?

Dass Sie sich zum Rahmenbefehl nicht äußern wollen, kann ich nicht akzeptieren. Wenn Sie die notwendige Sachkenntnis nicht haben, müssen Sie sich diese eben verschaffen. Das erwarte ich vom Oberbürgermeister einer Stadt, wenn die zuständige Polizeidirektion dort offene und verdeckte Aufklärung betreibt. Ich musste mich als mündiger Bürger auch zunächst informieren, bevor ich die Ungeheuerlichkeit der getroffenen Anordnungen ermessen konnte. Den Rahmenbefehl kann ich Ihnen, wenn Sie dies wünschen, gerne zur Verfügung stellen, nicht von einer undichten Stelle geliefert, sondern mir vom Landgericht Stuttgart überlassen. An der politischen Verantwortung nicht nur des Innenministers, sondern der gesamten Landesregierung für den Rahmenbefehl besteht meines Erachtens kein Zweifel.

Ihr Vertrauen in die Behörden, was die Auswertung der auf meinen Computern gespeicherten Daten anbelangt, ehrt Sie. Allerdings ist dieses Vertrauen naiv, weil die Auswertung in der von Ihnen angenommenen Art und Weise gerade nicht vorgenommen wird. Bitte lassen Sie sich das, so wie ich es getan habe, von jemandem aus einer Polizeibehörde, der auf dem Gebiet arbeitet, erklären. Ich bin mir sicher, dass Sie dann auch ein gesundes Misstrauen entwickeln.

Die Formulierung, dass die Ermittler etwas über den Bahnhof lernen, empfinde ich als reichlich flapsig. Bitte bedenken Sie, dass sich beispielsweise auch ein vertraulicher Faktenaustausch mit Mitgliedern der GRÜNEN-Fraktion des Landtags zum Untersuchungsausschuss zum 30.9. auf meinem Rechner befand sowie Kontakte zur Landesregierung im Vorfeld der Parkräumung vom 15.2.2012 gespeichert waren.

Der von Ihnen kritisierten Unterteilung der Welt in Gute und Böse unterliegen Sie offenbar selbst. Wie sonst sollte man Ihre despektierliche Äußerung über die „Fortschrittstunnelfraktion“ verstehen? Sind Sie nicht wie ich der Meinung, dass man mit den Projektbefürwortern sachlich und ohne Vorurteile umgehen sollte, genau so, wie die Gegner das auch einfordern?

Auf die Volksabstimmung will ich nicht im Einzelnen eingehen. Sie wissen so gut wie ich, dass sie keinerlei juristische Wirkung erzeugt hat und nicht herangezogen werden kann als Alibi dafür, die versprochene kritische Begleitung unter den Tisch fallen zu lassen. Übrigens wurde über die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm nicht abgestimmt, sodass es (legt man Ihre Sichtweise zugrunde) für dieses Projekt auch keine politische Sperre gibt, Wirtschaftlichkeit, Kosten und Machbarkeit immer wieder neu auf den Prüfstand zu stellen. Hat man davon je etwas gehört?

Zur Verdeutlichung Ihres Sinneswandels ein Zitat aus Ihrem eigenen Beitrag „Wahlkampf gegen das Volk“ im Buch „Stuttgart 21 – Die Argumente“: „Wer A sagt, muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war. Es ist tatsächlich ein Testfall für unsere repräsentative Demokratie, ob die Volksvertreter zu solcher Erkenntnis fähig sind…“.
Und noch deutlicher Winfried Kretschmann im selben Buch mit seinem Beitrag: „Es macht doch gerade eine demokratische Ordnung aus, dass sie Beschlüsse korrigieren kann, ja dass sie Beschlüsse ändern muss, wenn sich die Voraussetzungen oder die Rahmenbedingungen ändern.“
Hat sich nach Ihrer Meinung seit der Volksabstimmung nichts geändert?

Noch kurz zur Tübinger Affenhirnforschung:
Im Koalitionsvertrag der rot-grünen Landesregierung (Seite 42) wird ausgeführt: „ Wir wollen die Zahl der Tierversuche im Land weiter verringern und die Entwicklung von Alternativmethoden besser fördern.“

Davon ist offenbar nichts übrig geblieben, obwohl andere Bundesländer derartige Experimente an Affen inzwischen verboten haben.
Sie selbst sind für die Versuche, weil Sie sich vom Nutzen der Tübinger Forschung für die Menschheit persönlich überzeugt haben. Ich schlage daher vor, zu noch größerem Nutzen für die Menschheit die Versuche nicht mehr an Affen, sondern an Menschen auszuführen.
Sicher finden sich doch in Tübingen genügend Freiwillige, die sich mit Freuden der Forschung zur Verfügung stellen. Sie werden sich bestimmt nicht davon abschrecken lassen, dass – wie die „Ärzte gegen Tierversuche e.V.“ schildern – die Tiere (und dann eben künftig die Menschen) zunächst stundenlang in einem Stuhl fixiert sitzen müssen und außerhalb der Versuche nichts zu trinken bekommen, weshalb sie kooperieren müssen, um als Belohnung für richtig erledigte Aufgaben ein paar Tropfen Saft zur Stillung des Durstes zu erhalten. Dann wird ein Loch in den Schädel gebohrt und ein Metallbolzen auf den Schädelknochen geschraubt, worauf der Kopf unbeweglich an einem Gestell angeschraubt wird und das Versuchsobjekt jahrelang an Versuchsreihen mitwirken muss.

Bestimmt leuchtet es den menschlichen Freiwilligen mit, dass dies alles für die Forschung notwendig ist, weshalb sie sich gerne beteiligen werden.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, der Elite-Universität und der schönen Stadt Tübingen alles Gute.

Mit freundlichen Grüßen

Dieter Reicherter

Auch hier war das Original ein MS-Word Dokument: Palmer 26.9.12.12.pdf

Bereits am Wochenende wird Herr Reicherter unter anderem am 30.09.2012 auf der Bühne stehen – mal sehen ob Herr Palmer die Courage hat seinen Worten zum 30.09. und der Einladung von Herr Reicherter Taten folgen zu lassen! Ich bin gespannt und natürlich auch dort so wie vor 2 Jahren.