Das Leistungswunder von Stuttgart 21 – ein Technikmärchen?

(Gemeinschaftswerk „Destillat“ – Text: Jochen Schwarz)

Mathe schlägt Schaumschläger

Der Physiker und Analytiker Dr. Christoph Engelhardt schaffte es, mit drei Arbeitsschritten innerhalb eines knappen Jahres, der Bahn die vermutlich heftigsten Probleme zu bereiten. Zunächst hielt man ihm vor, nicht vom Fach zu sein. Seit dem wird seine Arbeit von der Bahn ignoriert. Aber offenbar ist sein fachfremdes Herangehen an die Leistungsversprechen zu Stuttgart 21 genau der entscheidende Vorteil. Seine wissenschaftliche Arbeitsweise kann von jedem nachvollzogen werden.

Die Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21 ist ein zentrales Argument.

Ein besserer Bahnhof, der zudem notwendig ist, ist dem Allgemeinwohl gleichzusetzen. Demgegenüber werden Eingriffe in den Denkmalschutz, den Naturhaushalt und das Privateigentum zurückgestellt. Wenn aber dieser neue Bahnhof gar nicht besser, also leistungsfähiger wäre, dann kann man die Eingriffe nicht mehr rechtfertigen, dann darf man nicht Milliarden für das Projekt ausgeben.

Wenn alle Wege nach Rom führen, muss Rom das Zentrum sein
Am Anfang der Wissenschaft steht immer eine Grundbehauptung. Diese muss beweisbar sein. Die Behauptung muss in alle Richtungen und unter allen Bedingungen belegbar sein, immer zum selben Ergebnis führen. Ist das der Fall, kann man sie als wahr bezeichnen. Sehr vereinfacht ausgedrückt:
Wenn 2+2=4 ist, dann muss auch 4-2=2 stimmen, und auch 4/2=2 ergeben.
Das ist der Ansatz von Herrn Engelhardt, den er nun vervollständigt hat.

Mit acht Gleisen im Tiefbahnhof sollen 49 Züge abgefertigt werden
Das war der Stresstest 2011, hochwissenschaftlich vorgetragen, unterstützt von unverständlichen Regelwerken und einer unbekannten Programmierung von Computern. Es war das gewünschte Ergebnis der Bahn, sozusagen eine Punktlandung. Und außer der Bahn hatte niemand Einblick oder Zugriff auf die Computer, um die Rechnungen nachzuvollziehen, die dieses Ergebnis erbrachten.

1. Schritt – Beobachtung
Wenn die Bahn 49 Züge mit acht Gleisen bewältigen will, dann ergibt das ca. 6 Züge pro Gleis. Ein einfacher Abgleich mit anderen deutschen, sogar internationalen, Bahnhöfen zeigt, dass nirgendwo sonst ein solcher Wert erreicht wird. Und umgekehrt, wo vier Züge pro Gleis bedient werden, kommt es bei Großbahnhöfen bereits zu Verspätungen.
Das die sechs Züge auch noch in guter Qualität den Kunden bedienen könnten, scheint schon daher ausgeschlossen. Nimmt man aber vier Züge als notwendig und realistisch an, bedeutet das bei acht Gleisen 32 Züge, also deutlich weniger als das, was bereits heute im Bonatz-Bahnhof notwendig ist.

2. Schritt – Kriminalistik

Wie also ist die Bahn auf die Weltbestleistung gekommen? Zunächst hat man sich einfach nicht an die eigene Vorgabe gehalten. Eine schlechtere Qualität erlaubt mehr Verspätungen. Wenn man die toleriert, kann man mehr Züge pro Gleis abfertigen. Da Verspätungen Folgen für den weiteren Fahrverkehr nach sich ziehen, muss man diese Auswirkung wieder irgendwo verstecken. Das gelingt dadurch, dass man den Betrachtungszeitraum in verkehrsschwache Bereiche hinein ausdehnt.
Da ein Fahrplan immer unter Stress steht, durch Baustellen oder Fahrzeugdefekte, werden solche Ereignisse in die Computer zur Simulation hinein programmiert. Durch feine mathematische Änderungen wurden die zunächst eingegebenen Verspätungen in ihren Spitzenwerten jedoch wieder abgerundet – der Stress also mathematisch beseitigt.
Hinzu kommen zahlreiche Punkte, an denen die Bahn sich nicht an ihr eigenes Regelwerk für derartige Simulationen gehalten hat. Natürlich steht damit der sogenannte Stresstest grundsätzlich in Frage.
Neu ist aber der Ansatz, die einzelnen Effekte zusammen zurechnen und sie von den 49 Zügen abzuziehen. Im Ergebnis kommt man wieder auf 32 Züge, die der Tiefbahnhof in seiner geplanten Ausführung leisten kann.

3. Schritt – Geschichtsforschung

Eigentlich stand am Beginn von Stuttgart 21 die Überlegung, eine große innerstädtische Fläche zur Bebauung zu gewinnen. Dem stand ein bedeutender Bahnhof entgegen, der verschwinden musste. Dass dafür sehr viel Geld nötig, aber wenig Platz verfügbar war, ist schon 1994 klar gewesen.
So gibt es nun zahlreiche Veröffentlichungen und Gutachten, die immer wieder belegen sollten, dass auf dem zur Verfügung stehenden Platz für acht Gleise, enorme Leistungsgewinne zu erzielen seien. Die fachlichen Gutachten für den Planfeststellungsbeschluss, wie auch für die folgenden Gerichtsverfahren, legen alle diese Zugewinne nahe, ohne jedoch konkret einen Wert zu nennen. Zugzahlen tauchen immer nur in Dokumenten auf, die für die Politik oder die Öffentlichkeit bestimmt waren – also nicht rechtsverbindlich sind.
Es ist also müßig, sich am Wahrheitsgehalt derartiger Behauptungen abzuarbeiten – es interessiert nicht die Spreu, sondern der Weizen. In mühsamer Recherche hat das Team von Herrn Engelhardt nicht nur die Gutachten, sondern auch die Ausarbeitungen und deren Anhänge ausfindig machen können. Und dort versteckt fanden sich dann Grafiken und Zahlen, deren Belastbarkeit man prüfen, deren Ergebnisse man den bisherigen Analysen gegenüberstellen kann.

Die erste große Überraschung ist bereits, dass die Unterlagen des „Projektvaters“ Prof. Heimerl durch einfaches Abzählen der Zugverbindungen in den Grafiken 32 Züge ergeben – schon damals weniger, als im Kopfbahnhof gefahren wurde. Die Planung der Bahn ist damit am Ursprung als Rückbau erkennbar.

Alle weiteren Gutachten, die im Ergebnis zu deutlich höheren Leistungswerten kommen, verwenden Effekte wie kurze Haltezeiten oder unrealistische Betriebsprogramme, die, wenn man sie subtrahiert, ebenfalls beim Auslegungswert von Heimerl landen. Das Szenario E im Planfeststellungsbeschluss verwendet zum Beispiel zu kurze Haltezeiten. Subtrahiert man den Zugewinn vom Ergebnis, bleiben von den 39 Zügen…? 32!

Es gibt also nirgends einen prüfbaren Nachweis, dass mit Stuttgart 21 ein Leistungsgewinn erzielt werden kann. Im Gegenteil, alle verfügbaren Studien verschleiern, mehr oder weniger gut, dass der Tiefbahnhof für 32 Züge ausgelegt ist.

Wenn alle Rechnungen 32 Züge ergeben, ist Stuttgart 21 ein Rückbau

Alle Untersuchungen von Herrn Engelhardt, die eine unterschiedliche Ausgangsbasis hatten, kommen immer zum gleichen Ergebnis:
Stuttgart 21 wurde für 32 Züge geplant und wird niemals eine wesentlich höhere Leistung erbringen.
Damit ist die sogenannte Planrechtfertigung, der Kern eines jeden Planfeststellungbeschlusses, hinfällig. Die erteilte Baugenehmigung erfüllt nicht den beabsichtigten Zweck. Die genehmigten Ausnahmen haben deshalb keine Grundlage mehr. Die Politik hat damit noch mehr Probleme, Gelder für das Projekt zu rechtfertigen.
Die anstehende Enteignung eines Wohnungseigentümers, also eines schweren Eingriffs in das Privateigentum, kann bereits zum Prüfstein werden, der sich als Stolperstein 21 erweist. Noch gravierender werden die Ergebnisse von Herrn Engelhardt für die anstehende siebte Planänderung sein. Denn dort muss das Gesamtprojekt in seinen Auswirkungen neu bewertet werden. Eine Verdoppelung der zu pumpenden Grundwassermenge, die damit einhergehende Ausweitung von Risiken, ist für einen dem Allgemeinwohl zu wider laufenden Schienenrückbau nicht genehmigungsfähig.

Dazu der Vortrag im Kulturzentrum „Schwanen“, Waiblingen, 18.07.2012, organisiert von der Initiative „Rems-Murr-gegen-Stuttgart21“(Videos Walter Steiger)

Interview zwischen Matthias von Hermann und Dr. Engelhardt – (Transkription des Interviews – Katis)

Dokumente zum Download

2012-07-18_Leitfaden_Gutachten
2012-07-18_Schluesselaussagen
2012-07-18_Folien_Pressekonferenz

STZ – Neue Zweifel an Kapazität des Tiefbahnhofs
ZVW – Technikwunder Stuttgart 21
Eisenbahn-Revue International 6/2011 Stuttgart 21: Leistung von Durchgangs- und Kopfbahnhöfen